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Ich hängte meine Lederjacke, die ich sommers wie
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winters trug, auf einen Bügel im Flur, zog die Schuhe aus,
die Socken und ging hinüber ins Zimmer und blieb an der
Tür stehen. Nach Alkohol roch es nicht, eher nach Seife
oder Shampoo.
Keiner von uns sagte ein Wort.
Kurz bevor die Zigaretten heruntergebrannt waren, nahm
Martin jeweils einen letzten Zug, wandte sich mit einer
eckigen Bewegung von der Wand ab und drückte die
Kippen in einem Aschenbecher auf dem Fensterbrett aus.
Dann drehte er sich zu mir um.
»Das war wahnsinnig laut«, sagte er mit angestrengter
Miene, als formuliere er komplizierte Gedanken, denen er
gleichzeitig nachhorchte. »Wie eine Explosion war das,
hinter mir, an der Wand, laut, laut. Das ist gut so nah an
der Wand, kühl.« Er sah zu der Stelle, an der er gerade
gestanden hatte. »Ich hab geduscht. Dann noch gebadet
und mir aus Versehen zweimal die Haare gewaschen. Bei
meiner Frisur ist das gezielte Umweltverschmutzung.«
Tatsächlich schien der spärliche, dunkelbraune Kranz
auf seinem Kopf ungewöhnlich zu glänzen, und nicht von
Schweiß.
»Hilft aber nichts«, sagte Martin. »Ich seh den jungen
Mann in der dünnen Jacke, er hat die geklauten
Unterhosen in den Innentaschen versteckt, wo auch sonst?
Und dann hat er die Pistole in der Hand, schießt gleich.
Auf die Entfernung danebenschießen ist auch eine Kunst.«
»Lass uns rausgehen«, sagte ich.
»Gute Idee«, sagte er. Dann ließ er die Schultern hängen,
trat zwei Schritte auf die Wand zu und lehnte sich mit der
Schulter dagegen, gekrümmt, mit schlenkernden Armen.
Er lehnte an der gelben Wand wie jemand, der hofft, die
Wand würde einstürzen und ihn unter sich begraben, so
tief hing sein Kopf, so ohne jeden eigenen Willen wirkte
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der dürre Körper. Ich ging zu ihm und drückte ihn an
mich, und es war, als umarmte ich einen Abschied aus
Knochen und Zittern.
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uf den »armen Mann«, wie sie ihn liebevoll und
A gleichzeitig mit kritischem Unterton nannte, ließ sie
trotz aller Zweifel an seinen Absichten nichts kommen. Er
sei immer auffallend gepflegt gekleidet gewesen, habe oft
eine Weile mit ihr gesprochen und sie sogar einmal zu
einem Kaffee eingeladen, den sie aber ablehnen musste,
weil sie die Kasse nicht verlassen durfte. In jüngster Zeit
habe er ihr oft nur kurz zugewinkt, bevor er in die
Ausstellungsräume hineinging, er habe, meinte Gerlinde
Falter, ein wenig »gehetzt« oder einfach nur »anders«
gewirkt als sonst. Ob er am vergangenen Mittwoch unter
den Besuchern im Haus der Kunst gewesen sei, könne sie
beim besten Willen nicht sagen, aber am Freitag war er
auf jeden Fall da, am Abend, und er hatte Streit mit dem
Hans, das habe sie der Polizei sofort gemeldet, nachdem
sie das Foto in der Zeitung gesehen hatte.
»Haben Sie früher an diesem Tag mit ihm gesprochen?«,
sagte ich.
»Nein«, sagte Gerlinde Falter. Sie trug ein eng
anliegendes grünes Sommerkleid mit weißen Streifen, an
dessen Kragen sie ständig zupfte, außerdem rückte sie
mehrfach ihre Brille zurecht und senkte den Blick, wenn
sie etwas sagte.
»Wissen Sie, wie der Mann heißt, den wir suchen?«,
sagte ich.
»Stand doch in der Zeitung!«, sagte sie hastig. »Cölestin
Korbinian.«
»Sie haben sich den Namen gemerkt.«
»Ja«, sagte sie und schaute ihre Kaffeetasse an.
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Wir saßen in der Cafeteria im Vorraum. Ununterbrochen
kamen Besucher herein, oft in Gruppen, die durcheinander
sprechend herumstanden und darauf warteten, eine
Einlasskarte in die Hand gedrückt zu bekommen. Alle
Tische des Cafes waren besetzt.
»Er hat sich nie bei Ihnen vorgestellt«, sagte ich.
»Da müsst ich mir ja viele Namen merken, wenn das
jeder tun würd«, sagte Gerlinde Falter, die dreiundfünfzig
Jahre alt war und seit fast zehn Jahren im Haus der Kunst
als Kassiererin arbeitete.
»Ich bin sicher, er hat sich bei Ihnen mit Namen
vorgestellt«, sagte ich.
Mit einem halben Kopfschütteln sah sie einer Gruppe
älterer Frauen hinterher, die es offensichtlich sehr eilig
hatten.
»Meine Kollegin wird langsam sauer«, sagte sie.
»Ich bin schuld«, sagte ich.
Sie zupfte an ihrem Kleid, an ihrem Hals schimmerten
winzige Schweißperlen. Für mich war sie die bisher
wichtigste Zeugin, vor allem deshalb, weil sie im
Gegensatz zum Busfahrer Eberhard Stamm, zu dem Mann
aus der Heiliggeistkirche und den vier anderen Personen,
die sich im Dezernat gemeldet hatten und mittlerweile von
Paul Weber und Freya Epp vernommen worden waren,
anscheinend etwas vor mir verbarg. Das gefiel mir. Nicht,
dass ich ihr unterstellte, sie würde mich anlügen oder mich
auf eine falsche Fährte locken wollen, sie strickte nur an
einem Verschweigen, dessen Muster sie aber nicht kannte,
weil ihr die Erfahrung fehlte.
An meinem Schweigen scheiterte das ihre.
»Wenn sie keine Fragen mehr haben, dann geh ich
jetzt«, sagte sie, und es gelang ihr, mich anzusehen.
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»Worüber haben Sie mit Herrn Korbinian gesprochen,
Frau Falter?«, sagte ich.
»Gesprochen kann man das nicht nennen, wir haben
geplaudert.«
»Worüber?«
»Was man halt so sagt, wenn man an der Kasse steht«,
sagte sie. »Dies und das. Was Allgemeines, und wenn man
sich schon mal gesehen hat, sagt man halt, dass man sich
freut, sich wiederzusehen.«
»Nein«, sagte ich. »Ich meine nicht, wenn Sie an der
Kasse miteinander sprechen, sondern wenn Sie sich hier in
der Cafeteria treffen.«
Anders als bei einem echten Lügner schoss ihr das Blut
ins Gesicht, sie nestelte an ihrer Brille, ähnlich wie Thon
an seinem Halstuch, öffnete den Mund, um etwas zu
sagen, nahm die Brille ab und setzte sie sofort wieder auf.
Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und stemmte
die Hände in die Hüften. Befragungen im Sitzen durchzu-
führen verursachte mir Rückenschmerzen, Nackenschmer-
zen, Kopfschmerzen, abgesehen davon, dass mir die Hose
zu eng war und ich jedes Mal, wenn ich länger saß, den
obersten Knopf unter dem Gürtel öffnen musste, im
Moment unmöglich, da die kunstgierige ältere Damenwelt
um uns herum sich das Warten damit vertrieb, mich wie
einen zotteligen, schlecht rasierten, erfolglosen, ver-
mutlich saufenden Künstler anzustarren.
»Was fragen Sie mich denn aus?«, sagte Gerlinde Falter.
Das lodernde Rot wich nur langsam aus ihren Wangen.
»Was wollen Sie denn von dem armen Mann? Ich hab ihn
gern, er spendiert mir einen Kaffee, und wir unterhalten uns
ein bisschen, das ist doch nicht verboten! Er ist freundlich
und zuvorkommend und anständig, das ist er immer
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gewesen, solang ich ihn kenn.« Sie stöhnte, schüttelte
wieder halb den Kopf und zupfte an ihrem Kleid.
Es kam mir vor, als würden sich alle Köpfe um uns
herum jetzt zu mir drehen wie auf der Tribüne während
eines Ballwechsels beim Tennis. Ich hatte Aufschlag.
»Wie lange kennen Sie ihn schon, Frau Falter?«, sagte
ich und blickte in die Runde. Niemand beachtete mich, [ Pobierz całość w formacie PDF ]

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