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nichts konnten. Für das Rote Kreuz zu arbeiten bedeutete
hingegen, sofort sichtbare Ergebnisse zu bewirken.
Sie beschloß, ihren Mann nach dem Kino in ein Cafe ein-
zuladen und dieses Vorhaben mit ihm zu besprechen.
Auf der Leinwand gab ein gelangweilter Regierungs-
beamter El Salvadors eine lahme Entschuldigung für eine
neuerliche Ungerechtigkeit ab, und plötzlich fühlte Mari,
wie ihr Herz schneller schlug. Sie sagte sich, daß das nichts
weiter sei. Vielleicht lag es an der verbrauchten Luft im
Kino, die ihr das Gefühl gab zu ersticken. Wenn es so wei-
terging, wollte sie hinaus ins Foyer gehen und durchatmen.
Doch dann überstürzten sich die Ereignisse: Das Herz
schlug immer schneller, ihr brach kalter Schweiß aus.
Sie erschrak, versuchte sich auf den Film zu konzentrie-
ren, um ihrer Angst Herr zu werden. Doch sie konnte dem
Geschehen auf der Leinwand schon nicht mehr folgen.
Während Mari in eine vollkommen andere Realität überge-
treten war, wo all dies fremd, vollkommen deplaziert war,
einer Welt angehörte, in der sie nie zuvor gewesen war, liefen
die Bilder immer weiter.
»Mir ist schlecht«, sagte sie zu ihrem Mann.
Sie hatte dieses Eingeständnis, daß etwas mit ihr nicht in
Ordnung war, solange hinausgeschoben wie möglich.
»Laß uns hinausgehen«, schlug er vor.
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Als er die Hand seiner Frau ergriff, um ihr beim Aufstehen
behilflich zu sein, bemerkte er, daß sie eiskalt war.
»Ich werde es nicht mehr bis nach draußen schaffen. Sag
mir bitte, was los ist.«
Der Ehemann erschrak. Maris Gesicht war schweißbe-
deckt, ihre Augen hatten einen merkwürdigen Glanz.
»Sei ganz ruhig. Ich werde hinausgehen und einen Arzt
holen.«
Sie war verzweifelt. Die Worte machten einen Sinn, doch
alles andere - das Kino, das Halbdunkel, die Leute, die ne-
beneinander saßen und auf die helle Leinwand blickten -
dies alles erschien ihr bedrohlich. Sie war sich sicher, noch
am Leben zu sein, sie konnte sogar das Leben um sie herum
berühren wie eine feste Masse. So etwas hatte sie noch nie
erlebt.
»Laß mich hier ja nicht allein. Ich werde aufstehen und
mit dir hinausgehen. Geh langsam.«
Die beiden entschuldigten sich bei den Zuschauern, die in
derselben Reihe saßen, und gingen zum hinteren Teil des
Saals, wo sich der Ausgang befand. Maris Herz klopfte jetzt
rasend, und sie war sich sicher, absolut sicher, daß sie nie-
mals aus diesem Raum herauskommen würde. Alles, was
sie tat, jede Geste, ein Fuß vor den anderen setzen, um Ver-
zeihung bitten, sich an den Arm ihres Mannes klammern,
einatmen, ausatmen, mußte sie plötzlich bewußt und überlegt
angehen, und das hatte etwas Bedrohliches.
Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie solche Angst
gehabt.
>Ich werde in einem Kino sterben.
Und sie glaubte zu begreifen, was mit ihr geschah, denn
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eine ihrer Freundinnen war vor vielen Jahren an einer Ge-
hirnblutung gestorben, und zwar auch im Kino.
Aneurysmen im Gehirn sind wie Zeitbomben. In den
Blutgefässen bilden sich kleine Krampfadern - wie Blasen in
gebrauchten Reifen -, und eine Person kann sie ihr ganzes
Leben lang haben, ohne daß etwas passiert. Niemand weiß,
daß er ein Aneurysma hat, bis es zufällig entdeckt wird,
beispielsweise, wenn das Gehirn geröntgt wird, oder wenn
das Aneurysma explodiert, alles mit Blut überschwemmt,
der Mensch sofort ins Koma fällt und im allgemeinen kurz
darauf stirbt.
Während sie durch den schmalen Gang des Saals ging,
erinnerte sich Mari an die Freundin, die sie verloren hatte.
Das Seltsamste war jedoch, wie die Explosion des Aneurys-
mas ihre Wahrnehmung beeinflußte: Ihr war so, als wäre sie
auf einem fremden Planeten gelandet und sähe alle Dinge
zum ersten Mal.
Und die bedrohliche, unerklärliche Angst, die Panik, ganz
allein auf diesem Planeten zu sein. Der Tod.
>Ich kann nicht denken. Ich muß so tun, als wäre alles in
Ordnung, und alles wird wieder gut.
Sie versuchte, ganz selbstverständlich zu handeln, und ei-
nige Sekunden lang nahm das Gefühl der Fremdheit ab. Die
zwei Minuten allerdings, die von den ersten Anzeichen von
Herzrasen bis zu dem Augenblick vergangen waren, als sie
die Tür erreichte, waren die schlimmsten in ihrem ganzen
Leben.
Als sie das erleuchtete Foyer erreichten, begann jedoch alles
aufs neue. Die Farben waren grell, der Straßenlärm schien
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von überall her auf sie einzudröhnen, und alle Dinge wirkten
vollkommen irreal. Sie bemerkte Einzelheiten, die sie nie
zuvor bemerkt hatte: daß wir nur in einem kleinen Bereich
scharf sehen, nämlich dort, wo wir konzentriert hinschauen,
während der Rest unscharf bleibt.
Und noch mehr: Sie wußte, daß alles, was sie um sich
herum wahrnahm, nichts als von elektrischen Impulsen in
ihrem Gehirn geschaffene Bilder waren, wobei Lichtimpulse
genutzt wurden, die durch einen gallertartigen Körper na-
mens >Auge
Nein. Nein, sie durfte nicht darüber nachdenken. Davon
würde sie verrückt werden.
Zu diesem Zeitpunkt war die Angst wegen des Aneu-
rysmas längst verflogen. Sie war aus dem Zuschauerraum
herausgekommen und lebte immer noch, während ihre
Freundin nicht einmal die Zeit gehabt hatte, von ihrem Sitz
aufzustehen.
»Ich werde einen Krankenwagen rufen«, sagte ihr Mann,
als er das blasse Gesicht und die bleichen Lippen seiner Frau
sah.
»Ruf lieber ein Taxi«, bat sie und fühlte die Töne aus ihrem
Mund kommen, spürte die Vibration der Stimmbänder.
Ins Krankenhaus fahren bedeutete einzugestehen, daß es
ihr wirklich sehr schlecht ging: Mari war entschlossen, bis
zur letzten Minute zu kämpfen, bis alles wieder wie vorher
war.
Sie verließen das Foyer, und die schneidende Kälte schien
ihr gutzutun: Mari bekam sich etwas in den Griff, obwohl
die Panik, der unerklärliche Schrecken fortbestanden. Wäh-
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rend ihr Mann versuchte, ein Taxi auf zutreiben, setzte Mari
sich auf den Bordstein und versuchte nicht auf das zu
schauen, was um sie herum los war: spielende Kinder, ein
vorbeifahrender Bus, ein naher Vergnügungspark, all dies
kam ihr absolut surrealistisch, erschreckend und fremd vor.
Endlich kam ein Taxi.
»Ins Krankenhaus«, sagte der Mann, während er seiner
Frau beim Einsteigen half.
»Nach Hause, um Gottes willen!« bat sie. Sie wollte keine
fremden Orte mehr, sie brauchte verzweifelt die vertrauten,
immer gleichen Dinge, die imstande waren, ihre Angst auf-
zufangen.
Während der Fahrt nahm das Herzrasen ab, und ihre
Körpertemperatur wurde wieder normal.
»Es geht mir schon besser«, sagte sie zu ihrem Mann.
»Wahrscheinlich ist mir etwas auf den Magen geschlagen.«
Als sie zu Hause ankamen, war die Welt wieder die alte,
die, die sie von Kindheit an kannte. Als sie ihren Mann zum
Telefon gehen sah, fragte sie, was er tun wolle.
»Einen Arzt rufen.«
»Das ist nicht nötig. Schau mich an, es geht mir wieder
gut.«
Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, das Herz schlug
normal, und die unkontrollierbare Angst war verschwunden.
Mari schlief in dieser Nacht sehr tief und wachte mit der
Gewißheit wieder auf, daß jemand ihr eine Droge in den
Kaffee getan haben mußte, den sie vor dem Kino getrunken
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hatte. Da hatte sich jemand einen gefährlichen Jux erlaubt,
und am Spätnachmittag war sie wild entschlossen, einen
Staatsanwalt anzurufen und mit ihm in die Bar zu gehen,
um den Schuldigen zu finden.
Sie ging zur Arbeit, bearbeitete einige rechtshängige Pro-
zesse, versuchte sich mit den unterschiedlichsten Angele-
genheiten zu beschäftigen. Das Erlebnis vom Vortag steckte
ihr noch in den Knochen, und sie mußte sich selbst beweisen,
daß es sich nicht wiederholen würde.
Sie diskutierte mit einem ihrer Partner über den Film
über El Salvador und erwähnte nebenbei, daß sie das täg-
liche Einerlei leid sei.
»Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, in Rente zu ge-
hen.« [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]

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